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Harald Köhl: Kants Gesinnungsethik. Eine Rezension.


INHALT

 

1. Das Buch................................................3

1.1. Preisgekrönte Dissertation............................3

1.2. Konzeption des Buches.................................3

 

2. Zum Inhalt: Gesinnungsethische Motive und Motivationen...............................................4

2.1. Motive: Zu Kants "principium diiudicationis"..........4

2.1.1. Motive..............................................4

2.1.2. Maximen.............................................8

2.1.3. Absichten...........................................8

2.2 Motivationen: Zu Kants "principium executionis".......10

 

3. Bewertung von Köhls Text als Beitrag zum

philosophischen Diskurs...................................12

3.1. Köhls Beitrag zur Forschung..........................12

3.1.1. Köhls Text als Interpretation Kants................12

3.1.2. Köhls eigene ethischen Ansätze.....................14

3.2. Die didaktische Dimension des Textes.................15

3.3. Zusammenfassung......................................16

 

 

Anhang

Literaturverzeichnis

1. Das Buch

1.1. Preisgekrönte Dissertation

Ich möchte an dieser Stelle über das Buch "Kants Gesinnungsethik" von Harald Köhl referieren. Dabei möchte ich eingangs etwas über die Entstehungsgeschichte des Buches sagen.

Harald Köhl bekam 1986 an der Freien Universität Berlin für eine erste Version dieses Textes den Doktorgrad im Fach Philosophie verliehen. Die Dissertation wurde von Ernst Tugendhat und Lorenz Krüger begutachtet.

1988 wurde eine weitere Fassung der Schrift auf Vorschlag von Lorenz Krüger und Günther Patzig mit dem "Heinz-Maier-Leibniz-Preis" für Praktische Philosophie ausgezeichnet, der vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft vergeben wird.

1990 schließlich erschien eine überarbeitete dritte Fassung beim Verlag "De Gruyter" in Berlin.

Meine Rezension wird nun zunächst die Konzeption und den Argumentationsverlauf der Schrift darstellen, um anschließend die Nützlichkeit derselben für verschiedene Aufgaben philosophischen Arbeitens zu bewerten.

1.2. Konzeption des Buches

Köhls Anliegen ist es, in seiner Arbeit die praktische Philosophie Kants zu untersuchen in ihrer Beziehung zu Kants "gesinnungsethischem Ansatz".

Köhls Schrift bezieht sich hauptsächlich auf den ersten Abschnitt der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", in der Kant das "oberste Prinzip der Moralität" aufsuchen will. Köhl bezieht sich ausdrücklich auf diesen Text, um dem Systemzwang zu entgehen, dem die "Kritik der praktischen Vernunft" im Rahmen von Kants Projekt einer allgemeinen Vernunftkritik unterliegt.

Der Autor zeigt zunächst, daß es sich bei dem in der "Grundlegung" ausgeführten ethischen System um eine "Gesinnungsethik" handelt, dessen zentrales Kriterium die Gesinnung des Handelnden ist. Er rekonstruiert dann aus dem Text sechs Hauptthesen, die er in ihrem Verhältnis zur "gesinnungsethischen Grundthese" untersucht. Mit Hilfe analytischer Interpretationen prüft Köhl den argumentativen Gehalt dieser Thesen und fragt, ob sie im Kontext heutiger ethischer Forschung haltbar sind.

Er kündigt in der Einleitung an, er wolle Kant so behandeln "wie einen zeitgenössischen Diskussionspartner". Dies bedeutet, daß Kants Texte wie ein Beitrag zum aktuellen ethischen Diskurs behandelt werden sollen. Ein solcher Ansatz erlaubt es, Kants Gedanken auf ihre philosophische Tragfähigkeit hin zu prüfen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln, ohne unmittelbar an das komplette philosophische System Kants bzw. die philosophiegeschichtlichen Bedingungen der Zeit gebunden zu sein. Freilich zeigt Köhls Arbeit auch die Grenzen dieses Verfahrens, zum Beispiel dann, wenn Köhl Kants Position im Streit mit Schiller zu rekonstruieren versucht. Hier bedient sich auch Köhl des hermeneutischen Verfahrens, um der Intention Kants im historischen Kontext auf die Spur zu kommen.

Köhl jedenfalls ist sich sicher, daß "Kant... den respektlosen, demokratisch-republikanischen Umgang mit einem Klassiker wie ihm gemocht" hätte.

 

2. Zum Inhalt: Gesinnungsethische Motive und Motivationen

Unter dem Titel "Gesinnungsethische Motive und Motivationen" möchte ich nun die zentralen Thesen und den Argumentationsverlauf des Buches darstellen.

Das Buch zerfällt inhaltlich in zwei Teile. In den Kapiteln 1-3 untersucht Köhl unter den Überschriften "Absichten", "Maximen" und "Motive" das Kantische Beurteilungsprinzip von Handlungen, also sein "principium diiudicationis". Im vierten Kapitel interpretiert Köhl Kants Konzept der "Achtung", die der Mensch nach Kant vor dem moralischen Gesetz hat, als eine "Theorie moralischer Triebfedern". Köhl macht anhand der einschlägigen Textstellen auf einleuchtende Weise klar, daß in Kants Theorie der "Achtung" das "principium executionis" vorliegt, also das, was einen Handelnden zum Ausführen einer als moralisch erkannten Handlung bewegt.

2.1. Motive: Zu Kants "principium diiudicationis"

2.1.1. Motive

Im ersten Kapitel macht Köhl zunächst deutlich, daß das, was nach Kant an einer Handlung moralisch beurteilt wird, die Handlungsabsicht ist: "Was an einer Handlung moralisch beurteilt wird, ist die Handlungsabsicht". Diese These bezeichnet Köhl als die "gesinnungsethische Grundthese" der Kantischen Ethik. Er weist zutreffend darauf hin, daß Kant hier mit dem Ausdruck "Absicht" nicht das Erreichen eines beabsichtigten Zweckes meint, also das "Wünschen" z. B. eines Gegenstandes, sondern die Absicht als das Wollen von Handlungen zum Erreichen bestimmter Zwecke.

Die Beurteilung von Handlungen stellt sich dann so dar, daß der moralische Wert von Handlungszwecken abhängig ist vom Wert des Willens zu dieser Absicht. Der moralische Wert des Wollens einer bestimmten Handlung besteht in der Verallgemeinerbarkeit des Wollens dieser Handlung. Zur Prüfung dieser Verallgemeinerbarkeit dient bei Kant der kategorische Imperativ "handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde".

Köhl grenzt Kants Ethik als eine "formale Ethik", die die Form des Wollens betrachtet, gegen "materiale Ethiken" ab, nämlich solche, die den Wert einer Handlung vom Wert der Materie, vom Wert des Zweckes dieser Handlung ableiten. Bei einer materialen Ethik ist der moralische Wert des Willens zu einer Handlung dann und nur dann gut, wenn der gewollte Zweck gut ist, d. h. der Wille ist inferentiell gut. Ein Wille, dessen Güte von der moralischen Qualität seiner Zwecke abhängt, ist offensichtlich heteronom. Kant kann schon deswegen eine solche materiale Ethik nicht vertreten.

Auch Köhl gelingt es in seinem Buch jedoch nicht die Frage zu klären, wie Kants moralisches Beurteilungsprinzip ganz ohne Rücksicht auf Handlungsfolgen und deren Wert funktionieren kann und wie die Prüfung der Verallgemeinerbarkeit einer Maxime ohne Kenntnis ihrer praktischen Konsequenzen möglich sein soll. Gewiß, die Interpretation der Absicht, des Wollens einer Handlung als das, was an einer Handlung moralisch bewertet wird, distanziert Kants Position vom Utilitarismus. Aber es ist doch immer noch die Gesinnung bei einer Handlung zu etwas, das Wollen irgendeines Beabsichtigtens, das Kant beurteilen will.

Köhl differenziert nun die möglichen Positionen eines Materialethikers, dem mutmaßlichen Gegner Kants. Es stellt sich heraus, daß mehrere Gegenpositionen denkbar sind, die von Kant selbst nicht unterschieden werden: Ein Beurteilungsprinzip, daß nur die beabsichtigten Folgen berücksichtigt, unabhängig davon, ob sie eintreten oder nicht; weiterhin eine verantwortungsethische Position, die die absehbaren Handlungsfolgen beurteilt, und schließlich eine rigoros konsequentialistische Folgenethik, die schlechterdings alle faktischen Folgen einer Handlung ins Kalkül zieht, selbst dann, wenn sie sich offensichtlich der Einflußnahme des Handelnden entziehen.

Köhl sammelt nun die Argumente, die Kant gegen solche materialethische Formulierungen vorbringt. Köhl erkennt die Kantischen Argumente nicht als ausreichend für eine Widerlegung der materialethischen Position angf. Allerdings glaubt Köhl, in dem Prinzip der Einflußnahme ein Kant-unabhängiges Argument für eine gesinnungsethische Konzeption gefunden zu haben. Das Prinzip der Einflußnahme besagt, daß bei der moralischen Beurteilung einer Handlung nur die Handlungsfolgen für oder gegen den Handelnden angeführt werden können, auf die der Handelnde Einfluß hatte, d. h. die er verantworten kann. Köhl zeigt, daß dieses Argument der Einflußnahme aber auch die verantwortungsethische Position stützt, die die absehbaren Handlungsfolgen für moralisch relevant hält. Köhl gibt zu, daß er "über definitive Gründe für die Entscheidung zwischen den beiden Positionen nicht verfüge". An diesem Punkt muß man die Frage stellen, inwieweit denn die Gegenüberstellung der verantwortungsethischen Position einerseits, und der Kantischen Gesinnungsethik andererseits überhaupt gerechtfertigt ist. Schließen die beiden Positionen einander wirklich aus? Wie oben gesagt, muß auch ein Kant die Folgen einer Handlung heranziehen, um die Widerspruchsfreiheit des Willens unter einer bestimmten Maxime zu prüfen. Andererseits, wie Köhl selbst anführt, ist auch die "Intendierte-Zwecke-Ethik" gleichzeitig eine gesinnungsethische Position, da sie die beabsichtigten Folgen einer Handlung ethisch bewertet.

Es gibt also offensichtlich Gemeinsames an formalen und materialen ethischen Konzeptionen: Bei beiden spielt die Gesinnung des Handelnden, seine Absicht, eine Rolle, und beide müssen sich - in irgendeiner Weise - auf die möglichen Folgen von Handlungen berufen. Köhl zeigt aber auch, daß beide Positionen für sich genommen unzureichend sind. Er verweist darauf, daß Kant die epistemische Dimension der moralischen Beurteilung übergeht: Bei der Abwägung über die moralische Qualität einer Handlung spielen in der Praxis notwendigerweise Überlegungen über die Folgen der verschiedenen Handlungsoptionen eine Rolle. Der Handelnde (oder der Beurteilende) sammelt aus seiner Erfahrung die voraussehbaren Folgen von bestimmten Handlungen. Das, was für den einzelnen absehbar ist, hängt aber wiederum vom Wissen, von der Erfahrung und von der Gründlichkeit der Kalkulation ab.

Eine reine Gesinnungsethik (wie sie Kant vorschwebt) berücksichtigt in unzureichendem Maße die Folgen einer Handlung, die aber z. B. für den von der Handlung Betroffenen letztlich entscheidender sind als die Gesinnung des Handelnden. Dem Handelnden dagegen tut man offensichtlich Unrecht, wenn man nur die Folgen seiner Handlung aufrechnet, die er eventuell hätte absehen können, und nicht auch seine Gesinnung berücksichtigt. Diese Diskrepanz wird in Köhls Beispiel des Tötungsdeliktes augenscheinlich, bei dem zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung zu unterscheiden ist. Köhl rekurriert hierbei auf die Quelle und die Funktion der Moral, die er in Form von "sozialen Regeln" in Analogie zur Funktion des Rechts sieht. Kant allerdings hat zwischen der Funktion von Recht und Moral ausdrücklich unterschieden (vgl. die beiden Teile der "Metaphysik der Sitten": Tugendlehre und Rechtslehre).

Köhl selbst entwickelt am Ende seines ersten Kapitels eine "Zwei-Komponenten-Theorie" über das, was an einer Handlung moralisch beurteilt wird. Diese Theorie erweitert Kants These vom "an sich guten Willen" um den Faktor der voraussehbaren Folgen einer Handlung. "Was an einer Handlung moralisch beurteilt wird, sind die voraussehbaren Folgen und die Absicht des Handelnden". Dies ist eine gesinnungsethisch modifizierte Variante einer verantwortungsethischen Position, d. h. Köhl hat ein Beurteilungsprinzip aus der modernen Ethik um die Kantische Idee nach der Frage der Gesinnung eines Handelnden erweitert.

Die Unterscheidung der Begriffe "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik" geht auf Max Webers Aufsatz "Politik als Beruf" von 1919 zurück. Der Unterschied zwischen Verantwortugsethik und Folgenethik besteht darin, daß eine verantwortungsethische Position nur die absehbaren Folgen einer Handlung berücksichtigt, d. h. die Folgen, die der Einflußnahme des Handelnden unterliegen, und für die er also Verantwortung tragen kann.

Köhl betrachtet beide Beurteilungsprinzipien jeweils für sich genommen als unzureichend. Er versucht zu zeigen, daß Kants Theorie nicht besser beweisbar ist als die rein verantwortungsethische Position und entscheidet sich deshalb letztlich - trotz bleibender Probleme - für diese Mischform ethischer Beurteilungsprinzipien.

2.1.2. Maximen

Im zweiten Kapitel verdeutlicht Köhl, daß die Absicht eines Handelnden sich nach Kant in Maximen ausdrückt. Eine Handlung ist demnach moralisch wertvoll, "wenn die Maxime, nach der sie geschehen ist, gut ist". Maximen sind Wollenssätze mit unterschiedlichem Allgemeinheitsgrad nach dem Muster "In einer Situation S will ich Handlungen vom Typ P ausführen". Maximen haben allerdings auch normativen Gehalt; insoweit nämlich praktische Vernunft entscheidenden Einfluß auf die Ausführung einer Handlung hat, wird jene, um konsequent zu sein, ihren Maximen gemäße Handlungen durchführen.

2.1.3. Absichten

Im dritten Kapitel seines Buches versucht Köhl eine Interpretation der "Pflicht-These" Kants aus der Grundlegungsschrift: "Eine Handlung ist nur dann moralisch gut, wenn sie aus Pflicht geschehen ist". Diese These rekonstruiert Köhl aus Kants Text als den ersten Satz, den Kant aus dem Begriff der Pflicht herleitet. Dieser Satz, so Köhl, antwortet auf die Frage, "aus welchem Beweggrund heraus jemand handeln muß, wenn seine Handlung moralisch gut sein soll".

Wenn eine Handlung nicht nur legal, also gesetzeskonform, sein soll, sondern auch moralisch, so muß sie um des Gesetzes willen ausgeführt werden. Denn bloß legal kann eine Handlung auch zufällig sein; "Moralität" aber kann nicht einer nur zufällig legalen Handlung zukommen. Wenn jemand gelegentlich zufällig eine legale Handlung ausführt, so kann er ein anderes Mal in derselben Situation eine gesetzeswidrige Handlung ausführen. Eine zufällig gesetzeskonforme Handlung kann natürlich nützlich oder wünschenswert sein, um aber zu garantieren, daß von einem gutwilligen Menschen regelmäßig legale Handlungen gewollt werden, müssen Handlungen wegen ihrer Pflichtgemäßheit (moralisch) gut sein.

Köhl leitet aus dieser Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität die Unterscheidung zwischen Absichten und Motiven her. Eine Absicht kann zufällig gesetzestreu sein, erst für eine Handlung, die aus dem Motiv heraus ausgeführt wurde, gesetzeskonform zu handeln, kann garantiert werden, daß sie moralisch gut ist.

Das letzte Motiv, das einer moralischen Handlung zugrunde liegen muß, ist also dieses: daß diese Handlung um ihrer Pflichtgemäßheit willen ausgeführt wird. Diesen letzten Bestimmungsgrund einer Handlung nennt Köhl "das genuin moralische Motiv".

Im Anschluß daran folgt eine Interpretation des Kantischen Pflichtbegriffs und der Auseinandersetzung zwischen Kant und Schiller, die den mit den herkömmlichen Interpretationen vertrauten Leser überrascht: Köhl behauptet, daß Kant für eine moralkonforme Handlung fordere, daß sie allein aus Pflicht und überhaupt nicht aus Neigung geschehen dürfe. Köhls Argumentation, obwohl sie vorbildlich textnah ist, vermag allerdings nicht hinreichend zu zeigen, daß Kant tatsächlich einen solchen exklusiven und strengen Pflichtbegriff vertrat. Köhl selbst stellt fest, daß Kants Position der Sache nach nicht befriedigt. Er vertritt daher die Auffassung, daß pflichtkonforme Neigungen der Moralität von Handlungen keinen Abbruch tun, solange nur das Motiv "aus Pflicht" zu handeln auch allein hinreichen würde, eine bestimmte Handlung als moralische auszuwählen. Er zeigt, daß es durchaus sinnvoll ist, moralkonforme Neigungen als Gefühle zu fordern, wenn man darunter die Kultivierung solcher Neigungen in der eigenen Person versteht. Diese Kultivierung ist möglich, da Gefühle, so Köhl, nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern als zusammengehörig mit Überzeugungen, Wünschen, Verhaltensweisen und anderen kognitiv beeinflußten Aspekten gelten müssen.

Am Ende des dritten Kapitels vergleicht Köhl die in den ersten Kapiteln explizierten Thesen Kants und interpretiert sie als jeweils spezifische Konkretisierungen der "gesinnungsethischen Grundthese", nämlich der These, daß es beim moralischen Beurteilungsverfahren auf die Handlungsabsicht ankommt.

2.2 Motivationen: Zu Kants "principium executionis"

Das vierte und letzte Kapitel des Buches trägt den Titel "Achtung" und handelt von Kants Theorie der moralischen Motivation. Es geht um die "kausale Komponente beim Handeln", die motivationale Kraft", welche die Gründe für eine Handlung auch handlungswirksam werden läßt.

Köhl unterscheidet "Handlungsmotive" und "Handlungsmotivation". Die Kantische Theorie der moralischen Handlungsmotive hat Köhl in den ersten drei Kapiteln seines Buches entfaltet. Er hat dabei gezeigt, daß diese These, wenn auch in teilweise deutlich modifizierter Form, auch heute noch brauchbar ist.

Nun geht es ihm um die Analyse der Handlungsmotivation, dem "principium executionis" und dessen Verhältnis zu den moralischen Motiven und der Gesinnung eines Handelnden. Für Kant ist das Gefühl der "Achtung für das moralische Gesetz" ein moralisches Gefühl. Köhl entfaltet dieses Konzept der Achtung und macht deutlich, daß "Achtung" bei Kant als Triebfeder für die praktische Vernunft funktioniert, d. h. sie zur tatsächlichen Ausführung einer als moralisch erkannten Handlung bewegt. "Achtung" ist allerdings für Kant auch die einzige mögliche moralische Triebfeder.

Der Gegenstand der Achtung ist, wie Köhl anschließend zeigt, das Sittengesetz und der Grund, warum es Achtung hervorruft, seine Autonomie, also seine besondere Stellung: wir selber legen es uns auf, es schränkt uns aber gleichzeitig ein, indem es unsere Neigungen in Schranken weist.

Köhl stellt die berechtigte Frage, wodurch sich Kants Theorie der Achtung als moralischem Gefühl von den sog. "Moral-Sense-Ethiken" z. B. eines Shaftesbury oder Hutcheson unterscheidet. Köhl führt dazu aus: "Für Kant ist das moralische Gefühl nur 'Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht Ursache desselben'".

Achtung vor dem Gesetz ist deshalb bloß eine Konsequenz von Moralität und insofern nicht konstitutiv für diese. "Moralisches Gefühl... hat keine Urteilsfunktion" und "geht... nicht dem Sittengesetz vorher". Achtung kann für Kant deshalb auch nicht gefordert werden, sie ist auch nicht notwendige Voraussetzung für eine moralische Handlung, sondern, so folgert Köhl, Achtung ist die bei der Ausführung moralischer Handlungen wirksame Triebfeder, der Ausführungsgrund.

Köhl kritisiert an Kants Achtungstheorie u. a., daß Kant das Gefühl der Achtung für eine hinreichende Triebfeder zu moralischem Handeln hält, was bedeuten würde, daß jeder, der Achtung vor dem moralischen Gesetz verspürt, auch moralisch handelt. Köhl hält dagegen, daß auch ein Schwerverbrecher Achtung vor dem Gesetz haben könne, obwohl seine anderen Neigungen sich immer durchsetzen.

Köhl kritisiert weiterhin, daß Kant das Achtungsgefühl als die einzige und alleinige moralische Triebfeder zuläßt. Dem stellt Köhl die "Pluralität moralischer Gefühle" gegenüber. Er zeigt, daß Alternativen zu Kants Gefühl der Achtung zumindest denkbar sind: z. B. das existentialistische Gefühl der Solidarität aus der Einsicht, daß alle Menschen die gleiche Grundsituation teilen, oder das Selbstwertgefühl eines Menschen, der seine Bestimmung darin sieht, sich immer moralisch zu verhalten. Auch in diesen Fällen, so Köhl, sind moralische Gefühle als Triebfedern tätig, um intellektuelle Einsichten über das, was moralisch ist, in praktisches Handeln umzusetzen.

Köhl zeigt abschließend, daß seine Alternativkonzeption nicht im Widerspruch zum Kantischen Entwurf steht, wenn man Kants Theorie des moralischen Gefühls erweitert und ein ganzes System möglicher motivationaler Kräfte zuläßt.

3. Bewertung von Köhls Text als Beitrag zum philosophischen Diskurs

Was leistet nun Köhls Beitrag? Wodurch kann die Auszeichnung seines Werkes mit einem Preis begründet werden?

Ich möchte versuchen, diese Fragen aufgrund meiner Erfahrungen mit dem Buch zu beantworten. Mir erscheinen drei Funktionen wichtig, aus deren Perspektive ich Köhls Beitrag einer Kritik unterziehen werde: Köhls Text als Beitrag zur Kant-Forschung, Köhls Beitrag zur systematisch-praktischen Philosophie und Köhls Darstellung der Grundlegungsschrift als Hilfsmittel zum Kant-Studium.

Die Beurteilung des Köhlschen Werkes hat allerdings ihre Tücken, da bei der Bewertung mehrere Schichten der Argumente unterschieden werden müssen: 1) Kants Konzeption; 2) Köhls Kant-Interpretation; 3) Köhls Alternativen; 4) jeweils mein Bezug zu diesen drei Ebenen.

3.1. Köhls Beitrag zur Forschung

3.1.1. Köhls Text als Interpretation Kants

Köhls Buch ist sicher kein so spektakulärer Beitrag zur Kant-Forschung wie z. B. text- oder editionskritische Funde oder eine neue Einsicht in die Entwicklung des Kantischen Denkens. Er stellt vielmehr eine subtile Interpretation der Grundlage der Ethik Kants dar.

Nun kann man einwenden, daß es doch bereits etliche brauchbare Kommentare zur Grundlegungsschrift bzw. Einführungen in die praktische Philosophie Kants gibt. Ist dies nun ein weiteres überflüssiges Werk in der unübersehbaren Flut von Neuerscheinungen?

Sicher nicht, denn Köhl verbindet die Darstellung und Kritik der Kantischen Originaltexte mit der Analyse, inwieweit sich Kants Ideen im Kontext der aktuellen ethischen Forschung aufrechterhalten lassen. Köhl zeigt, daß Kants Ansätze sich - in teilweise deutlich modifizierter Form - als fruchtbar für den aktuellen ethischen Diskurs erweisen können. Er zeigt aber auch rückhaltlos auf, wo Kants Thesen in sich selbst widersprüchlich oder unklar sind und wo sie ganz einfach dem ja auch oft von Kant herbeizitierten "gesunden Menschenverstand" widersprechen.

Köhls Darstellung der Ethik Kants als eine formale Pflichtethik im Gegensatz zu materialen, z. B. utilitaristischen Ethiken entspricht in ihrer Interpretation weitgehend dem üblichen Kant-Verständnis. Die analytische Interpretation von Maximen und Motiven und ihrer Bedeutung für die Ethik Kants ist schon innovativer. Bemerkenswert sind hier sicherlich die provokanten Interpretationen der "Pflicht-These" in einem ausschließenden Sinn.

Als ganz und gar neuer Ansatz stellt sich dann erst das vierte Kapitel dar, in dem Köhl dem durch kognitive Prozesse geleiteten "principium diiudicationis" ein mit motivationalen Triebfedern operierendes "principium executionis" entgegenstellt. Bemerkenswert ist, wie treffsicher Köhl den Verdacht ausräumt, daß Kant mit diesem "principium executionis" des moralischen Gefühls auch ein "Moral-Sense-Ethiker" gewesen sei. Köhls methodisches Vorgehen besteht darin, die Thesen Kants zu entfalten und dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrem philosophischen Gehalt darzustellen. Hier, beim Vergleich der Kantischen Theorie motivationaler Triebfedern mit den "Moral-Sense-Ethiken" z. B. Hutchesons oder Shaftesburys, zeigt sich, daß es Köhl mit seinem Verfahren tatsächlich gelingt, die Begriffe der Ethik Kants exakt in den Blick zu bekommen.

Köhl kündigt eingangs an, er wolle aufzeigen, daß die Kernthesen der ersten beiden Abschnitte der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" verschiedene Konkretisierungen der "gesinnungsethischen Grundthese" seien, welche besagt, daß es bei der moralischen Bewertung von Handlungen auf die Gesinnung des Handelnden ankommt. In der Tat gelingt es Köhl durch seine analytischen Textauslegungen sowohl den jeweils individuellen Gehalt der einzelnen Thesen als auch das sie Verbindende herauszufinden. Er expliziert dadurch über die Interpretation der einzelnen Thesen das Fundament der Kantischen Gesinnungsethik.

Gegen Köhls Interpretation des Kantischen Achtungsbegriff als Exekutionsprinzip moralischer Handlungen läßt sich eine Stelle der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" anführen. Auf Seite 440 der Akademieausgabe schreibt Kant: "Auch haben wir oben gezeigt, wie weder Furcht, noch Neigung, sondern lediglich Achtung fürs Gesetz diejenige Triebfeder sei, die der Handlung einen moralischen Wert geben kann". Hier stellt Kant die Achtung vor dem Gesetz als konstitutiv für die Moralität einer Handlung dar, das hieße aber, daß der Begriff der Achtung für Kant auch zum Dijudikationsprinzip gehört. Köhl verweist selbst auf diesen Satz und stellt eine ganze Reihe anderer Thesen Kants dagegen, insbesondere aus den Mitschriften von Kants Vorlesungen über Ethik. Köhl vermutet, daß die zitierte Formulierung aus der Grundlegungsschrift ein Versehen Kants sein könne.

3.1.2. Köhls eigene ethischen Ansätze

Wie oben bereits erwähnt lebt Köhls Beitrag insbesondere davon, daß der Autor die Thesen Kants nie nur als Selbstzweck untersucht, sondern immer auch nach ihrer Wahrheitsmöglichkeit fragt. Er untersucht ihre Bedeutung im Zusammenhang mit heutigen Problemen der Ethik, wie z. B. der Verantwortung für Handlungsfolgen.

Dabei kommen Köhls eigene Ansätze jedoch viel zu kurz. Ihre ausführliche Entwicklung hätte, wie der Autor selbst bemerkt, den Rahmen dieses Buches gesprengt. Man fragt sich, warum er denn dann nicht den Rahmen gesprengt und ein Buch über analytische oder angewandte Ethik verfasst hat. Seine eigenen Thesen unterbrechen den eigentlichen Argumentationsgang oftmals, ohne befriedigend ausgeführt zu werden. Es obliegt letztlich dem Leser, die Plausibilität der Köhlschen Ideen zu prüfen und ihre Beziehung zur Kantischen Ethik, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede genauer zu bestimmen.

Köhls Vorschlag einer Zwei-Komponenten-Theorie zur moralischen Beurteilung von Handlungen stellt sich als problematisch heraus. Köhl schlägt vor, die Gesinnung eines Handelnden und die tatsächlichen Handlungsfolgen der Handlung, soweit diese für den Handelnden absehbar waren, zu beurteilen. Dieses Verfahren hat, gegenüber Kants Theorie beispielsweise, den Nachteil, daß es das Verhältnis der beiden Komponenten zueinander unbestimmt läßt. Köhl muß angeben können, welcher Aspekt wichtiger ist, wie man die Komponenten aufwiegen kann usw. Seine eigene Rede von Vektoren des ethischen Beurteilungsverfahren deutet an, wie problematisch es ist, aus mehreren unabhängigen Komponenten letztlich den moralischen Wert einer Handlung zu bestimmen. Einen ähnlichen Vorschlag hat auch William Frankena in seinem Buch "Analytische Ethik" (1963) gemacht. Frankena kommt zu dem Ergebnis, daß sowohl das Nützlichkeitsprinzip, d. h. das Prinzip, ein möglichst großes Übergewicht guter gegenüber schlechter Handlungsfolgen herbeizuführen, als auch ein deontologisches Prinzip der Gerechtigkeit bei der Bestimmung sittlichen Handelns gelten muß. Er gibt allerdings zu, daß "es sich als unmöglich erweisen" mag, "die Bedingungen, unter denen der Gerechtigkeit der Vorrang gebührt, im einzelnen anzugeben". Kant hat dieses Problem nicht, da in seiner Ethik "nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen" ihrer Moralität zugrunde liegt.

3.2. Die didaktische Dimension des Textes

Zuletzt möchte ich den hier zur Diskussion gestellten Text von einer Perspektive her prüfen, die mir als noch nicht routinierter Anfänger sehr wichtig erscheint: die didaktische Qualität des Textes, das bedeutet die Verständnishilfe, die das Buch dem Kant-Anfänger bei der Erarbeitung des Kantischen Ethikentwurfs gibt.

Grundsätzlich ist Köhls Text hervorragend klar geschrieben und daher gut lesbar. Seine Sprache ist meist angemessen und die Argumentation ist so gegliedert, daß der Leser stets darüber im Bilde ist, wohin das Unternehmen gerade steuert. Dies gilt insbesondere für Köhls Analyse inhaltlicher Mehrdeutigkeiten, die in den Schriften Kants ja an der Tagesordnung sind. Durch das analytische Vorgehen Köhls, das die Thesen Kants zunächst scharf erfaßt und dann weiter entfaltet, d. h. zu ihrer ausgeführten Bedeutung bringt, wird auch dem Kant-unerfahrenen Leser beim Verständnis der Kantischen Ethik geholfen.

Angesichts des ansonsten klaren Stils ist allerdings unklar, warum auch Köhl manchmal der verbreiteten Unsitte verfällt, seine Sprache durch Fremdwörter und veraltete Ausdrücke unnötig aufzublähen: da gibt es "genuin" moralische Motive und ein Sachverhalt gilt "cum grano salis".

3.3. Zusammenfassung

Insgesamt stellt Köhls Buch also einen interessanten und brauchbaren Beitrag zur wissenschaftlichen Literatur dar. Er hat gezeigt, daß die von Kant in der "Grundlegung" vorgestellte Ethik dem Grunde nach eine Gesinnungsethik ist. Was Kant an einer Handlung moralisch bewertet wissen will, ist die Gesinnung des Handelnden.

Es gelingt Köhl, die Hauptthesen der ersten beiden Abschnitte der Grundlegungsschrift als Ausführungen und Spezifikationen dieser gesinnungsethischen Grundkonzeption Kants zu interpretieren.

Seine eigenen Modifikationen und Weiterführungen der Kantischen Ideen scheinen ein fruchtbarer Beitrag für die systematisch ausgerichtete Ethik zu sein, obwohl sie, wie oben gezeigt wurde, mit einigen Schwierigkeiten behaftet sind.

Und schließlich ist es ihm, wenn auch mit Einschränkungen, gelungen, einen aus didaktischer Sicht akzeptablen Text zu verfassen, der auch dem Kant-Anfänger hilfreich zur Seite steht und dem Fortgeschritten beinahe ungetrübtes Lesevergnügen bereitet.

Als schaler Nachgeschmack bleibt höchstens das Gefühl, daß Köhl vielleicht besser beraten gewesen wäre, wenn er die Gedanken dieses komplexen Werkes in zwei Teilen dargestellt hätte: nämlich einen, der seine Interpretation und Kritik der Kantischen Gesinnungsethik enthält, und einen anderen, in dem er die aus der Kant-Interpretation gewonnen Einsichten weiterentwikkelt und für die systematische Ethik nutzbar macht. So interessant die Vielseitigkeit seines Buches auch ist - seine eigenen ethischen Positionen stören hin und wieder die Argumentation am Kant-Text, und sie kommen ihrerseits viel zu kurz.

Anhang

 

 

Literaturverzeichnis

 

Frankena, William K.: Analytische Ethik (München, 1981 [11972]).

Kant, I.: Gundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. von Th. Valentiner. (Stuttgart, 1984).

Köhl, H.: Kants Gesinnungsethik. (Berlin, 1990).

Reiner, H: Artikel "Gesinnungsethik", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 540.

 

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