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Das Ersatzfach für Religion am Bertha-von-Suttner Gymnasium, Oberhausen

INHALT

 

1. Problemstellung

1.1. Einführung

1.2. Zur Konzeption dieser Arbeit

1.2.1. Zielsetzung

1.2.2. Methodisches Vorgehen

1.3. Übliche Praxis des Religionsunterrichts in der Mittelstufe

1.4. Das "Ersatzfach für Religion" am Bertha-von-Suttner Gymnasium, Oberhausen

1.4.1. Ziele

1.4.2. Inhalte

 

2. Teilnahme der Schüler am Religionsunterricht

2.1. Rechtliche Lage

2.2. Abwahl

2.2.1 Schüler aus anderen Religionsgemeinschaften und ungetaufte Schüler

2.2.2. Abwahl aus "Gewissensgründen"

2.2.3. Ausblick

 

3. Alternativen zum "Heidenhüten" und zum konfessionellen Religionsunterricht

3.1. Notwendigkeit einer Alternative

3.2. Alternativkonzeptionen

3.3. Das "Ersatzfach für Religion am Bertha-von-Suttner Gymnasium"

3.5. Schülereinstellungen

 

4. Perspektiven

4.1. Das "Ersatzfach für Religion" am Bertha-von-Suttner Gymnasium

4.2. Ausblick: Möglichkeit einer Wahlpflicht zwischen "Religionslehre" und "Philosophischer Orientierung"

Anhang:

Literaturverzeichnis.

Schmidt, U.: Unterrichtsinhalte des Ersatzfaches für Religion. Unveröffentlichtes Manuskript (Oberhausen, 1991).

Statistik über die Teilnahmer- und Abmeldezahlen des Faches Religionslehre in der Mittelstufe des Bertha-von-Suttner Gymnasiums in Oberhausen.

1. Problemstellung

1.1. Einführung

Es gibt ein Schulfach, das genaugenommen schon ab dem 1. Schuljahr in differenzierter Form unterrichtet wird: das Fach Religionslehre. Im Gegensatz zu Fächern wie Mathematik oder Deutsch ist dieser Unterricht konfessionell gebunden, d. h. die einen Schüler nehmen am katholischen, die anderen am evangelischen Religionsunterricht teil.

Nun gibt es aber auch Schüler, für die keiner der beiden Kurse in Frage kommt: moslimische Kinder, Mitglieder der Zeugen Jehovahs oder Kinder, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Zudem besteht aufgrund der gewährten Religionsfreiheit mit Vollendung des 14. Lebensjahres die Möglichkeit, sich selbst vom Religionsunterricht abzumelden.

Innerhalb der Sekundarstufe I muß die Beaufsichtigung aller Schüler gewährleistet sein (sog. Kustodialfunktion von Schule). Was also kann man mit den Schülern anfangen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen?

1.2. Zur Konzeption dieser Arbeit

1.2.1. Zielsetzung

Im Sommer 1991 hatte ich während meines vierwöchigen Praktikums am Bertha-von-Suttner Gymnasium in Oberhausen die Gelegenheit, eine Alternative zu den üblichen Notlösungen kennenzulernen: in der 10. Jahrgangsstufe gibt es das sogenannte "Ersatzfach für Religion", das von Frau Ursula Schmidt konzipiert und durch ihre eigene Initiative eingeführt worden ist.

Aufgrund der Erfahrungen, die ich während des allgemeinpädagogischen Schulpraktikums machen konnte, soll die Problematik des konfessionellen Religionsunterrichts in der Mittelstufe aus zwei Perspektiven dargestellt werden: Zum einen aus der organisatorischen Perspektive (Beaufsichtigung, Stundenplan), und zum anderen vom bildungstheoretischen Standpunkt aus. Letzterer Punkt wird vor allem die Frage betreffen, inwieweit der konfessionell gebundene Religionsunterricht nicht auch Inhalte thematisiert, die unabhängig vom persönlichen Glauben erzieherische Funktion haben und somit Teil des individuellen Lernwegs eines jeden Schülers sein sollten.

Insgesamt will ich alle zu behandelnden Fragen im Kontext meiner persönlichen Erfahrungen am Bertha-von-Suttner Gymnasium zu klären suchen, wobei Ausblicke in allgemein- und fachdidaktische Überlegungen unerläßlich sein werden.

Am Schluß sollen die Möglichkeiten und die Chancen der Institutionalisierung eines solchen Ersatz- oder Alternativfaches in Nordrhein-Westfalen geprüft werden. Ich werde diese Analysen aus rein didaktischer Sicht durchführen, ohne die zweifellos vorhandenen Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen (z. B. der Kirchen und der verschiedenen Fachlehrer) an der Thematik zu berücksichtigen.

1.2.2. Methodisches Vorgehen

Zuerst soll anhand einer Statistik untersucht werden, wie groß der Anteil der Schüler am Bertha-von-Suttner Gymnasium ist, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Darüberhinaus sollen analytisch die denkbaren Ursachen für eine Nicht-Teilnahme dargestellt werden. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse werden

dann die daraus für den Lernbereich des Faches Religion entstehenden Konsequenzen entfaltet.

Im Anschluß daran wird auf der Folie möglicher Alternativkonzeptionen der persönliche Entwurf von Frau Schmidt analysiert. Ihr Ansatz wird sowohl von der theoretischen Grundlegung als auch von der Unterrichtspraxis her auf seine Tauglichkeit hin bewertet, die aufgezeigten Probleme lösen zu helfen.

1.3. Übliche Praxis des Religionsunterrichts in der Mittelstufe

Üblicherweise werden die Schülerinnen und Schüler, die aus irgendwelchen Gründen nicht am Religionsunterricht teilnehmen, in irgendeiner Form beaufsichtigt, wobei sie sich selbst beschäftigen können, z. B. in der Schulbibliothek.

Es gibt weiterhin die Möglichkeit, die Religionsstunden im Stundenplan in die ersten oder letzten Stunden zu legen, so daß die entsprechenden Schüler dann eher nach Hause gehen bzw. später zur Schule kommen, wodurch man die Kustodialfunktion einfach auf das Elternhaus abschiebt. Dieses Verfahren wird praktiziert, soll aber nach den amtlichen Verfügungen vermieden werden, um die Option der Abwahl des Faches Religion nicht durch die Alternative der völligen Freizeit noch attraktiver zu machen. Außerdem bringt dieses Verfahren zusätzliche Einschränkungen bei der Ausarbeitung des Stundenplanes mit sich.

1.4. Das "Ersatzfach für Religion" am Bertha-von-Suttner Gymnasium, Oberhausen

1.4.1. Ziele

Um die aus dem üblichen Procedere resultierenden Probleme zu vermeiden, hat Frau Schmidt für das Schuljahr 1991/92 ein Unterrichtskonzept ausgearbeitet, um die Schüler, die an keinem der beiden konfessionellen Religionskurse teilnehmen, nicht nur zu beaufsichtigen (das sog. "Heidenhüten"), sondern mit ihnen Unterrichtsinhalte zu erarbeiten, die unabhängig vom Lehrplan des konfessionellen Unterrichts sind, aber dennoch als Teil der Kulturgeschichte und der eigenen Orientierung innerhalb der Welt und unserer Kultur bedeutsam sind.

Diesem Konzept liegt die Annahme zugrunde, daß der Religionsunterricht auch Kompetenzen und Inhalte vermittelt, die für die Erziehung jeden Schülers als wichtig angesehen werden müssen, ungeachtet der Anbindung an den Glauben einer bestimmten Religion oder an eine Religion überhaupt.

Die Schüler sollen durch den Unterricht im "Ersatzfach" "Einblicke gewinnen in Wertvorstellungen verschiedener Epochen". Sie "sollen versuchen zu beurteilen, welche dieser Normen in unserer Zeit Orientierungshilfe sein können".

1.4.2. Inhalte

Dieses Lernziel wird im 1. Halbjahr der Klasse 10 umgesetzt, indem am Beispiel der Antike Wert- und Normfragen exemplarisch bearbeitet werden.

Als erstes Unterrichtsthema wird die Idee der Bedürfnislosigkeit (Askese) bei antiken Denkern wie Diogenes (der vorsokratische "aus der Tonne"), Benedikt von Nursia und Jesus untersucht. Diese Konzepte sollen dann mit der Frage der Bedürfnisse bzw. der Bedürfnislosigkeit in der heutigen Zeit verglichen und ihre mögliche Relevanz diskutiert werden.

Als weitere Themen der Unterrichtseinheit "Wertvorstellungen der Antike" sind vorgesehen: "Das Menschenbild in der Antike" und die Religion der Römer".

Der Unterricht in diesem "Ersatzfach" ist genaugenommen illegal. Für dieses Fach gibt es weder Richtlinien noch Verordnungen über die Ausbildung und Zulassung von Lehrkräften: Das Fach existiert offiziell überhaupt nicht in Nordrhein-Westfalen.

 

2. Teilnahme der Schüler am Religionsunterricht

2.1. Rechtliche Lage

Der rechtliche Rahmen des schulischen Religionsunterrichts wird zuoberst von zwei Artikeln des Grundgesetzes abgesteckt, nämlich von Artikel 4, Absatz 1 und 2, und Artikel 7, Absatz 2 und 3.

Artikel 4 garantiert zunächst jedem Menschen die Freiheit, sich zu jeder Art von Weltanschauung zu bekennen und seinen religiösen Glauben ungehindert zu praktizieren. Hier liegt die verfassungsrechtliche Verankerung einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft.

Artikel 7, der generell das Schulwesen regelt, gibt mit Absatz 3 dem konfessionellen Religionsunterricht einen festen Platz in der deutschen Schule. "Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach." Dieser Unterricht wird "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt". Absatz 3 ermöglicht also die Institution des Religionsunterrichts als Regelfach, verpflichtet aber keineswegs dazu, da ja die Möglichkeit bekenntnisfreier bzw. privater Schulen mit anderen weltanschaulichen Grundsätzen ausdrücklich offengehalten wird.

Um den Gegensatz von Religionsfreiheit auf der einen und konfessionellen Religionsunterricht als Regelfach auf der anderen Seite zu entschärfen, mußte die Möglichkeit einer Abmeldung vom Fach Religion ermöglicht werden. "Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen". Mit Vollendung des 14. Lebensjahres geht diese Entscheidungsfreiheit an den Schüler selbst über. Allerdings entspricht die Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht nicht dem regulären Wahlverfahren, wie z. B. in Wahlpflichtbereichen, sondern die Abmeldung muß immer unter Berufung auf die Religions- und Gewissensfreiheit erfolgen.

2.2. Abwahl

Welche Schüler nehmen denn nun tatsächlich nicht am Religionsunterricht teil? Warum nehmen sie nicht teil und wie groß ist ihr Anteil?

Denkbar ist eine Nicht-Teilnahme zum einen aus religiösen bzw. weltanschaulichen Motiven und zum anderen aus Desinteresse oder Faulheit.

Weltanschauliche Gründe können zunächst durch die Tatsache vorliegen, daß ein Schüler einer "fremden" Religionsgemeinschaft angehört (z. B. Islam, Zeugen Jehovahs); außerdem dadurch, daß jemand überhaupt nicht getauft ist bzw. keiner Religionsgemeinschaft angehört. Schließlich kann noch ein Schüler, der zwar getauft ist, zu der Überzeugung gelangen, daß religiöser Glaube ihm nichts bedeutet.

Schüler, die einer anderen Religionsgemeinschaft angehören, fallen nur deshalb in die Kategorie der "potentiellen Nicht-Teilnehmer", weil der schulische Religionsunterricht ein speziell christlich-konfessioneller Religionsunterricht ist.

Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft bedeutet nicht unbedingt, daß jemand keinen religiösen Glauben hat oder sich nicht für derlei Fragen interessiert. Auch bei ausdrücklichen Vertretern des Atheismus oder des Agnostizismus darf nicht von vornherein Desinteresse an weltanschaulichen oder religiösen Fragen vorausgesetzt werden.

Ich werde hier exemplarisch die Teilnahmesituation in den Klassen 8-10 am Bertha-von-Suttner Gymnasium darstellen.

2.2.1 Schüler aus anderen Religionsgemeinschaften und ungetaufte Schüler

In dieser Kategorie werden alle diejenigen Schüler gezählt, die aus formellen Gründen nicht unter den christlichen Religionsunterricht fallen. Diese Schüler dürfen theoretisch natürlich sowohl am evangelischen als auch am katholischen Religionsunterricht teilnehmen. In der Praxis wird von diesem Recht jedoch meines Wissens nach so gut wie nie Gebrauch gemacht.

Im Schnitt nehmen in der Mittelstufe des Bertha-von-Suttner Gymnasiums 10,6 % (40 von 226) aller Schüler aus diesen Gründen nicht am Religionsunterricht teil. Dieser Wert schwankt allerdings sehr zwischen den verschiedenen Jahrgangsstufen und Klassen: Während in der Klasse 10d kein Schüler aus o. g. Gründen nicht teilnimmt, sind es in der Klasse 8a immerhin 28 % (7 von 25). In der gesamten Jahrgangsstufe 10 ist das Problem mit 5 Schülern von 95 eher unbedeutend, während in der Stufe 8 mit 20 von 120 Schülern jeder 6. betroffen ist, so daß dieser Schüleranteil nicht mehr nur als Randphänomen betrachtet werden kann.

In den 9. Jahrgängen nehmen 14,1 % (15 von 106) der Schüler nicht am Religionsunterricht teil, weil sie konfessionslos oder Mitglied einer nicht-christlichen Religionsgemeinschaft sind.

2.2.2. Abwahl aus "Gewissensgründen"

Wie schon in einer Fußnote in der Einleitung zu diesem Kapitel erwähnt, ist die genaue Bestimmung der Gründe, die zur Abmeldung vom Religionsunterricht unter Berufung auf die Glaubensfreiheit führen, problematisch. Rein statistisch und verwaltungstechnisch stellen alle diese Abmeldevorgänge eine Befreiung vom Religionsunterricht aus Gründen der Religionsfreiheit dar. In der Praxis erscheint das Problem allerdings geradezu unverschämt offen: Schüler sagen dem Religionslehrer ehrlich, daß sie einfach keine Lust auf den Religionsunterricht haben. Der Religionslehrer, auch wenn ihm die Ehrlichkeit seiner Schüler gefällt, muß darauf drängen, daß der entsprechende Schüler in einem Schriftstück offiziell seine Abmeldung aus Gewissensgründen erklärt.

Auch die Größe dieser Gruppe schwankt ganz erheblich zwischen den einzelnen Klassen bzw. Jahrgängen. Die niedrigste Quote ergibt sich in der Klasse 8d, wo mit 1 von 17 christlich getauften Schülern (statistisch) nur 5,7 % abgewählt haben. In den Klassen 9c bzw. 9d dagegen haben mit jeweils 13 von 24 potentiellen Teilnehmern je 54,2 % abgewählt haben, was bedeutet daß mehr Schüler die Teilnahme ablehnen als Interessenten für den Religionsunterricht übrig geblieben sind.

In der Stufe 8 beträgt der Anteil der ausdrücklichen Abwähler 14,1 % (15 von 104), in der 9. Jahrgangsstufe 37,4 % (34 von 91) und der 10. Jahrgangsstufe 16,7 % (15 von 89). Über die gesamte Mittelstufe ergibt sich ein Schnitt von 22,5 % (64 von 284).

2.2.3. Ausblick

Während der letzten drei Schuljahre ist die Zahl der ausdrücklichen Abmelder ständig angestiegen. Für die ganze Mittelstufe stieg der Anteil zunächst zum Schuljahr 88/89 hin um 6% auf 12%, im Schuljahr 89/90 dann um nochmals 5,5 % auf 17,5 %. Im Schuljahr 90/91 ist der Wert auf 22,5 % angestiegen.

In der Literatur finden sich vergleichbare Werte zum Anteil der nicht-christlichen Schüler bzw. der Abmelder. Böhm berichtet von "Schulen im Ruhrgebiet, in denen rund ein Drittel der Schülerinnen und Schüler nicht einer christlichen Konfession angehört". Seinen Erhebungen zufolge beläuft sich der Anteil der Abmelder und den Stufen 9 und 10 "in einer erheblichen Zahl der Schulen... auf mindestens 20 %".

Insgesamt nehmen am Bertha-von-Suttner Gymnasium in der Jahrgangsstufe 8 noch 74,2 % (89 von 120) aller Schüler am Religionsunterricht teil, in der Stufe 9 nur 53,8 % (57 von 106), und in der 10. Jahrgangsstufe 77,8 % (74 von 95 Schülern insgesamt). Auch hier ist ein Blick auf die Abweichung einzelner Klassen vom Durchschnitt aufschlußreich: In der 10d nehmen mit 25 von 27 Schülern fast alle an einem Religionskurs teil, aber der Anteil schrumpft bis auf 36,6 % noch teilnehmender Schüler (11 von 30) in der 9c.

Der Anteil der Schüler, die keiner christlichen Konfession angehören, wird mit Blick auf die zu erwartenden Einwanderungs- und Flüchtlingsströme mit Sicherheit noch steigen. Auch ist mit einer fortdauernden weiteren Säkularisierung der Lebenswelt zu rechnen. Diese Trends deuten einen weiteren Rückgang der Teilnehmerzahlen des Religionsunterrichts an.

 

3. Alternativen zum "Heidenhüten" und zum konfessionellen Religionsunterricht

3.1. Notwendigkeit einer Alternative

Die in Kapitel 2.2. dargestellten Zahlen deuten zunächst auf Probleme der Kirchen hinsichtlich ihres zukünftigen Klientels hin. Außerdem lassen die Zahlen vermuten, daß für die Vertreter des Faches Religionslehre der Legitimationszwang für das Fach Religion, das sowieso schon im Dauerfeuer der Kritik steht, noch drückender wird.

Aber aus den Entwicklungen folgen auch beträchtliche schulorganisatorische und didaktische Schwierigkeiten. Ursprünglich wurden die Nicht-Teilnehmer, deren Zahl vor 10 Jahren noch sehr gering war, in irgendeiner Form von Lehrkräften beaufsichtigt. Dies bedeutet aber, insbesondere wenn diese Gruppe die Stärke einer ganzen Schulklasse annimmt, daß in jeder Stufe mindestens ein Lehrer für zwei Wochenstunden eingesetzt werden muß.

Aber auch aus curricularer Sicht wirft die Entleerung der Religionskurse Probleme auf. Zunächst zieht die Institution des Religionsunterrichts eine künstliche Linie zwischen den Schülern, die am Religionsunterricht teilnehmen, und denen, die es nicht tun. Das trifft insbesondere diejenigen Schüler, die aufgrund anderer kultureller und religiöser Herkunft nicht teilnehmen und bedeutet, vor allem aus der Perspektive eines wünschenswerten integrativen Unterrichts, daß "Schule und Religionsunterricht eine ethnische und soziale Marginalisierung... durch eine religiös-kulturelle Diskriminierung zusätzlich befördern".

Der Religionsunterricht soll den Schülern helfen, "die grundlegenden Erfahrungen des Menschen als Individuum und soziales Wesen... zu erschließen und aufzuarbeiten". Im Religionsunterricht soll die Beschäftigung mit Fragen der eigenen Existenz und der möglichen Transzendenz der Erfahrungswirklichkeit stattfinden, "damit der einzelne die für sein Leben notwendige Sinnorientierung und Lebensgewißheit findet und so im gemeinsamen Handeln mit anderen Gegenwart und Zukunft mitgestalten kann". Die Notwendigkeit dieser Lernziele als grundlegendem Bestandteil des schulischen Lernweges für jeden Schüler scheint einsichtig, insbesondere im Zusammenhang mit der immer komplexer werdenden Wirklichkeit und der Aufsplitterung, die die Lebenswelt in der Schule in Form von Fächern erfährt. Wenn aber immer größer werdende Teile einer Jahrgangsstufe nicht am Religionsunterricht teilnehmen, entfällt "für einen Großteil der Schülerschaft" die "systematische Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen".

Ein Fach wie "Ethik" könnte die Kluft zwischen Christen und Moslimen, zwischen Atheisten und Gläubigen, zwischen Europäern und Menschen anderer Kulturen zu überbrücken helfen. Die einfache Beaufsichtigung der Kinder würde durch eine sinnvolle Beschäftigung miteinander anhand elementarer philosophischer Fragestellungen ersetzt. Allen Schülern würde ermöglicht, sich mit solchen Problemen auseinanderzusetzen. Auch die für viele Schüler attraktive Alternative der Freizeit würde dadurch wegfallen.

3.2. Alternativkonzeptionen

Insgesamt also zeigt eine Analyse des heutigen Religionsunterrichts dringenden Handlungsbedarf in Richtung einer Neuordnung des Lernbereichs an, wenn man verhindern will, daß großen Teilen der Schülerschaft religiös-philosophische Fragestellungen vorenthalten bleiben. Es wurde gezeigt, daß ein neues Fach, als Ersatz für die Nicht-Teilnehmer oder gar als Alternative zum herkömmlichen Religionsunterricht überhaupt, die Probleme lösen könnte.

In welcher Form sind nun Alternativen zum bestehenden Modell der konfessionellen Religionslehre denkbar? Schon bei dem Versuch, die Inhalte eines Ersatzfaches genauer zu bestimmen, stellt man fest, daß sich eine ganze Reihe von Alternativmodellen aufstellen lassen. Diese reicht von einem verallgemeinerten, überkonfessionellen Religionsunterricht bis zu der Idee, den Unterricht im Fach "Philosophie" schon ab der 8. Klasse anzubieten. Auch die organisatorische Funktion eines Alternativfaches wirft Fragen auf: Soll das bisher praktizierte Abmeldeverfahren beibehalten werden, so daß weiterhin alle "Christen" zum konfessionellen Religionsunterricht gehen, während die Abwähler und "Nicht-Christen" zu einem Ersatzfach verpflichtet werden? Soll die freie Wahl zwischen Religion und einem Alternativfach im Sinne eines Wahlpflichtbereiches anheimgestellt werden? Oder kann man, wie bei der Neuordnung des Schulsystems im Bundesland Brandenburg diskutiert wird, den traditionellen Religionsunterricht gar ganz durch ein neues Fach ersetzen? Diese Fragen müßten im Zusammenhang einer Umstrukturierung des Lernbereichs "Ethik/Religion/Philosophie" der Mittelstufe geklärt werden.

3.3. Das "Ersatzfach für Religion am Bertha-von-Suttner Gymnasium"

Um zu eine Bewertung des von Frau Schmidt am Bertha-von-Suttner Gymnasium durchgeführten "Ersatzfaches" zu kommen, ist es sinnvoll, die didaktische Konzeption dieses Faches zu analysieren und zu fragen, wodurch und inwieweit es zur Lösung der oben aufgezeigten Problematik beiträgt.

Das von Frau Schmidt für den Unterricht in der 10. Klasse vorgestellte Thema im Schuljahr 1990/91 lautet "Wertvorstellungen in der Antike". Welche allgemeinen Ziele verfolgt die Behandlung dieses exemplarischen Themenkomplexes?

Frau Schmidt kündigt in einer Elterninformation an, ihr Unterricht solle die Schüler befähigen, "zu beurteilen, welche dieser (antiken, Einfügung S. G.) Normen in unserer Zeit Orientierungshilfen sein können". Auf der Ebene einer Unterrichtsstunde konkretisiert sich dieses Ziel z. B. so: Die Schüler haben sich mit Textauszügen über Diogenes beschäftigt und diskutieren anhand der Einstellungen des Digogenes über die Frage nach der richtigen Ernährung. Als Aufgabe soll ein Speiseplan erstellt werden, welcher sowohl den asketischen Forderungen des Diogenes genügt, als auch modernen ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt.

Durch diese Unterrichtsgestaltung sollen die Schüler einüben, sich mit der Darstellung philosophisch-ethischer Sachverhalte in Texten auseinanderzusetzen. Man kann üben, die Kernthesen zu rekonstruieren und die Meinung des Sekundärautors vom Inhalt der dargestellten Theorie zu trennen.

Die Schüler sind weiterhin gefordert, die ethischen Thesen auf ihr privates Leben zu beziehen und zu ihnen Stellung zu nehmen. Da dieses Vorgehen darauf abzielt, die Schüler zur eigenen Meinungsbildung zu befähigen, kann man es als das "ethisch-lebenspraktische" Lernziel bezeichnen. Außerdem lassen sich noch sekundäre Lernziele aus dem geschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Bereich aufzeigen.

Hinter diesen Zielen steckt vermutlich die pädagogische Hoffnung, daß die Schüler sich die eine oder andere "gute" ethische Maxime zu eigen machen und so zu halbwegs "kultivierten" Menschen werden.

Die von Frau Schmidt für das Schuljahr 91/92 vorgesehene Thematik bezieht sich offenbar sehr stark auf handlungspraktische Fragen, die anhand von historischen Texten erörtert werden. Religiös-weltanschauliche Fragen kommen zumindest in der Darstellung der Unterrichtsinhalte wenig zum Zug. Als ihre Unterrichtseinheit zusammenfassende zentrale Frage will Frau Schmidt mit ihren Schülern diskutieren, "welche dieser Vorstellungen... in das Christentum /den Islam aufgenommen worden" sind.

Wie ist die Unterrichtskonzeption dieses Ersatzfaches zu bewerten? Wenn Frau Schmidt dem in Abschnitt 3.1. aufgezeigten Hauptproblem gerecht werden will, dem Problem nämlich, daß großen Teilen der Schülerschaft kein Forum zur Verfügung steht um sich systematisch mit Sinn- und Normfragen auseinanderzusetzen, so müßte sie den Schülern Zeit und Raum geben, "radikal der Frage nach Sinn und Wahrheit des Lebens einzelner und der Welt nachzugehen".

Sicher geben die Beispiele, an denen Frau Schmidt ihre Lernziele realisieren will, ausreichend Anlaß zur Auseinandersetzung mit ethischen Fragen. Gerade in einer luxurierenden Überflußgesellschaft ist die Konfrontation mit einer asketischen Lebensweise sinnvoll. Allerdings, so scheint mir, ist die Unterrichtspraxis des "Ersatzfaches" oft zu wenig an der Erfahrungswelt der Schüler orientiert. Die Beschäftigung mit "Idealen" des klassischen Altertums rückt die Schüler geradezu meilenweit weg von den heute drängenden Fragen, auch wenn Frau Schmidt sich ständig bemüht, Parallelen zur heutigen Welt herzustellen. Dies belegen auch die Schülerreaktionen auf Fragen wie "Könntest Du Dir ein Leben ohne Fleisch und Süßigkeiten vorstellen?". Ein Großteil der Antworten war eher oberflächlich und unsachlich und offenbarte, daß eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Frage nicht stattgefunden hatte. Meiner Ansicht nach ist das "Ersatzfach für Religion" am Bertha-von-Suttner Gymnasium allzusehr historisch geprägt.

Fragen wie "Was versteht man unter ''Philosophie' /unter 'Ethik'" scheinen dagegen sehr viel besser geeignet zu sein, den Schülern einen Zugang zur systematischen Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen zu bahnen. Begrüßenswert ist auch der Versuch von Frau Schmidt, neben abendländischen Traditionen auch den lebensweltlichen Erfahrungen islamischer Teilnehmer Raum zu geben, indem diese im Kurs asketische Ideen des Islam vorstellen können. Auf diese Weise findet ein wünschenswerter kultureller Austausch zwischen den verschieden Religionen statt anstelle der künstlichen Differenzierung, die der zeitgenössische Religionsunterricht herstellt.

Insgesamt ist es fraglich, ob die Diskussion asketischer Ideale der Antike ausreicht, die Komplexität moderner Wert-, Sinn- und Handlungsfragen zu erfassen. Zu schnell wird das Augenmerk auf ethische, auf moralische Fragen gedrängt. Zu wertend ist das ständige "Vorkauen" asketischer Ideale, wenn nicht auch offen über die Möglichkeit und die Vorzüge luxuriöser Lebensvarianten gesprochen wird. Den Schülern sollte insbesondere ein Deutungsraster für ethische Maximen und Ideale vorgestellt werden, es müßte über den Sinn von Ethik und der Möglichkeit von Moral überhaupt gesprochen werden. Es ist auf dem Hintergrund der curricularen Aufgaben, aus denen das Fach erwächst, wichtiger, die Möglichkeiten und Grenzen, die Reichweite und Funktion ethischer Normen grundsätzlich zu thematisieren, als traditionelle Ideale zu vermitteln.

3.5. Schülereinstellungen

Zentral für das Gelingen des Unterrichtsprojektes von Frau Schmidt dürfte die Einstellung der betroffenen Schüler zum Fach sein. Die Beschäftigung mit weltanschaulich-philosophischen Fragen hat in der Schule überhaupt nur dann Sinn, wenn die Schüler ihr mit breiter Akzeptanz und Diskussionsbereitschaft entgegentreten. Es ist abwegig, jemanden zur Urteilsbildung in philosophischen Fragen zwingen zu wollen.

In einer Stunde zum Thema "Sinn und Unsinn des Religionsunterrichts" im Fach "Evangelische Religionslehre" in einer 7. Klasse haben die Schüler ihr Interesse an religiös-weltanschaulichen Fragen äußern können. Dabei ist erstens bemerkenswert, daß einige Schüler mit den Begriffen "Philosophie" und "Ethik" überhaupt nichts anzufangen wußten. Dies wurde durch neugieriges Fragen ("Was ist das denn, Philosophie?") offenbar.

Weiterhin deutete sich eine gewisse Gewöhnung der Schüler an den schon jahrelang erfahrenen Religionsunterricht an: Auf die Frage "Würdet ihr euch freuen, wenn der Religionsunterricht aufhören würde?" kamen mehre Antworten mit dem Inhalt "Wir sind ja jetzt gewohnt, daß wir ihn haben", was doch einen Grad von Verbundenheit zeigt.

Mehrmals wurde von Schülern darauf hingewiesen, daß ihr Urteil davon abhängt, "was stattdessen käme". Ein Schüler gab sogar eine Reihenfolge an: "Lieber Sport als Religion, aber lieber Religion als Ethik!". Insgesamt war keine Abneigung gegen den Religionsunterricht als solchen feststellbar. Gegenüber neuen Fächern, wie "Philosophie" oder "Ethik" herrschte - soweit diese zur Sprache kamen - neugieriges Interesse.

 

4. Perspektiven

Welche Erkenntnisse lassen sich aus der hier vorgeführten Analyse der Problematik und des Unterrichtsmodells von Frau Schmidt gewinnen?

4.1. Das "Ersatzfach für Religion" am Bertha-von-Suttner Gymnasium

Die Einführung eines Alternativfaches ist unumgänglich, da heute die Befähigung der Schüler zur eigenen weltanschaulichen Orientierung, zur eigenen Standort- und Perspektivenbestimmung als ein wichtiges schulisches Lernziel betrachtet werden muß und vom Religionsunterricht nicht mehr in ausreichendem Maße, d. h. nicht mehr für alle Schüler sichergestellt werden kann.

Da, wie gezeigt wurde, der Unterricht im "Ersatzfach" auch in der Praxis eine Konfrontation der Schüler mit den entsprechenden Fragen leistet, ist der mehr oder weniger illegale Modellversuch am Bertha-von-Suttner Gymnasium daher als Schritt in die richtige Richtung zu sehen.

In der 10. Jahrgangsstufe haben sich im Schuljahr 1991/92 knapp 17 % der Schüler abgemeldet, die einer der beiden großen Konfessionen angehören. Im Vergleich zu den 14 % des Vorjahres bedeutet dies, daß der vielbeschworene "Rückdrängungseffekt" der Schüler zurück in den Religionsunterricht nicht unbedingt einsetzt. Dies ist aber aus der didaktischen Perspektive unproblematisch, da jeder Schüler, ob christlich oder einer anderen Religion zugehörig, ob gläubig oder atheistisch, die Chance hat, sich mit Fragen nach Religion, Weltanschauung, richtigem Handeln usw. auseinanderzusetzen.

Vor dem Hintergrund, daß von Seiten der Kultusbehörde in Düsseldorf in absehbarer Zeit nicht mit der Institutionalisierung eines Ersatzfaches zu rechnen ist, muß man die Eigeninitiative des Bertha-von-Suttner Gymnasiums begrüßen.

Wie die didaktische Analyse des Konzepts von Frau Schmidt und die entsprechende Kritik daran gezeigt haben, ist die Eigenverantwortung des Lehrkörpers aber auch problematisch. Hier fehlen sowohl Richtlinien, geeignete Lehrmaterialien und Ausbildungsverordnungen für entsprechende Fachlehrer als auch Entscheidungen über die aufgezeigten Unklarheiten bei der genauen Bestimmung der Funktion eines "Ersatzfaches". Insgesamt möchte ich jedoch die Mühe der Vorbereitung und die praktisch sichtbaren Erfolge von Frau Schmidt würdigen.

4.2. Ausblick: Möglichkeit einer Wahlpflicht zwischen "Religionslehre" und "Philosophischer Orientierung"

Die aktuelle schulpolitische Diskussion um die Einrichtung des Faches "Religion" in Brandenburg, wo sich nur 3 % der Eltern für die Etablierung des traditionellen, konfessionell getrennten Religionsunterrichts ausgesprochen haben, gibt Anlaß, im Zusammenhang mit den in dieser Arbeit diskutierten Fragen nach einer generellen Neuordnung des betroffenen Lernbereichs zu fragen.

Wenn man schon die Monopolstellung des Religionsunterrichts aufgibt, könnte man noch weitere Reformen mitdiskutieren.

Das neu zu begründende Fach sollte mehr als nur klassische Weltanschauungs- und Wertfragen vermitteln. Man kann durchaus eine das Alter der Schüler in der Mittelstufe berücksichtigende Version des Philosophieunterrichts in Erwägung ziehen, wie Fragen nach Inhalt und Bedeutung von Philosophie und Religion in dem Entwurf von Frau Schmidt andeuten. Dieses Fach im Sinne einer "Philosophischen Orientierung" müßte offen und erfahrungsbezogen sein und sowohl sämtliche Fragen berücksichtigen, die die Schüler in den Unterricht hineintragen, als auch deren Erfahrungswelt durch das Aufwerfen philosophischer Fragestellungen zu erweitern suchen. Den Schülern sollte man dabei die freie Wahl zwischen der herkömmlichen Religionslehre und der "Philosophischen Orientierung" gewähren, ohne irgendeine ausdrückliche formelle Begründung zu fordern. Das Konzept von Frau Schmidt weist deutlich in diese Richtung. Will man auch in Zukunft in der Mittelstufe auf philosophisch-weltanschauliche Inhalte nicht verzichten, so muß der traditionelle schulische Religionsunterricht durch ein Alternativfach ergänzt und in einer mehr und mehr säkularisierten Welt vielleicht sogar auf Dauer behutsam ersetzt werden.

 

 

Literaturverzeichnis

 

 

 

 

Böhm, G.: Ersatzfach Ethik auch für Nordrhein-Westfalen? in: SchulVerwaltung 8 (1990).

Hahn, M., Linke, M., Noormann, H.: "Welchen Religionsunterricht braucht die öffentliche Schule?", in: ru. Zeitschrift für die Praxis des Religionsunterrichts 3 (1991).

Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien des Faches Evangelische Religionslehre für die Sekundarstufe I der Gesamtschule (Düsseldorf, 1981).

Schmidt, U.: Unterrichtsinhalte des Ersatzfaches für Religion. Unveröffentlichtes Manuskript (Oberhausen, 1991).

Schmidt, U.: Unterrichtsentwürfe und Arbeitsblätter zum "Ersatzfach für Religion". Unveröffentlichte Manuskripte (Oberhausen, 1990).

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